Saras Aufenthalt an der Westtown School (2009/10)

West Chester, Pennsylvania, USA

Porträt

Vor der Abreise

Ich bin Sara und 16 Jahre alt. Ich wohne in Herford und studiere neben der Schule als Jungstudentin Klarinette an der Hochschule für Musik in Detmold. Außerdem spiele ich auch Klavier. Ich mache zudem gerne Sport; Ich liebe Fußball, schwimme sehr gerne und bin auch oft im Fitnessstudio oder joggen. Wenn dann noch Zeit übrig ist, lese oder schreibe ich gerne.
Ich verbringe mein 11. Schuljahr (2009/2010) als Junior an der Westtown School in Pennsylvania. Auf ssb bin ich durch meine Schwester gekommen, da sie ihr 11. Schuljahr an der Andrews Osborne Academy in Ohio verbracht hat. Schon damals habe ich den Ablauf mit verfolgt und wusste somit in etwa, was alles auf mich zukommen würde. Trotzdem hatte ich noch viele Unsicherheiten und offene Fragen. Insofern hat mir das Vorbereitungstreffen in Heidelberg sehr geholfen, da ich endlos viel Fragen konnte und alle Fragen auch geduldig beantwortet wurden - sei es von Alumnis, die zu Gast waren, Vertretern verschiedener Schulen oder dem ssb-Team selbst. Während dieses Seminars habe ich viel gezweifelt, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ich machte mir vor Allem Sorgen um die strengen Regeln, und das dicke Handbuch meiner Schule jagte mir Angst ein. Als ich in Heidelberg abends im Bett lag, musste ich schrecklich viel nachdenken und habe mir die ganze Zeit versucht auszumalen, wie es wohl sein wird.
Als die Abreise dann immer näher kam, wusste ich überhaupt nicht, was ich machen sollte. Meine Schwester hatte damals eine große “Farewell-Party” gemacht, um sich von Allen gebührend zu verabschieden. Ich wollte das aus irgendeinem Grunde nicht, und hatte mich daher entschlossen, lieber eine “Welcome-Back-Home-Party” im Sommer 2010 zu feiern. Das machte aber das Abschiednehmen auch nicht einfacher, denn so musste ich mehr oder weniger jedem einzeln “tschüss” sagen. Es lief dann am Ende darauf hinaus, dass ich nicht Allen richtig gerecht werden konnte. Das Ganze, was da passierte, war irgendwie so unwirklich und ich habe es gar nicht so richtig wahrgenommen.
Ich hatte komischerweise keinen Bammel. Ich war einfach nur gespannt und interessiert an dem, was kommen würde. Auch als ich meiner Mutter am Flughafen eine letzte Umarmung gab, war es nicht so schlimm. Natürlich liefen ein paar Tränen, aber meine Mutter war ganz relaxed. Wahrscheinlich, weil sie das alles schon von meiner Schwester her kannte. Der Abschied von meiner Schwester war der Schlimmste. Ich kann nicht erklären, warum es schlimmer war als mit meiner Mutter, aber es war einfach furchtbar. Wir konnten unsere Tränen nicht stoppen und waren ziemlich am Ende. So bin ich dann am 24. August 2009 nach Amerika abgeflogen.
Mit der Gastfamilie

Die ersten Wochen

Ich bin an einem Freitag geflogen und hatte deshalb noch das Wochenende, bis die Preseason begann. Da meine Tante mit mir geflogen ist, haben wir noch das Wochenende in Philadelphia verbracht und hatten eine Menge Spaß. Ich war so naiv und dachte, dass ich kein Heimweh bekäme und dass alles wohl irgendwie gut werden würde. Naja, das alles hat sich dann ziemlich schnell geändert, als meine Tante mich meiner Gastfamilie “überreichte”. Ich habe geweint wie ein Schlosshund und dachte, ich schaffe das nie.
Fußballmannschaft
Am Montag brachte mich meine Host family dann zur Schule und ich spielte eine Woche soccer. Ich muss ehrlich sein und sagen, dass das wohl die schlimmste Zeit hier war. Ich konnte nicht schlafen, bin morgens um 5 Uhr vor lauter Heimweh aufgewacht und habe die ganze Zeit gedacht, ich schaffe das alles nicht. Dass vieles davon psychisch war, ist ja klar, denn wer hat schon Heimweh nach ein paar Tagen? Ich war ja noch nicht einmal eine Woche von Zuhause weg. Ich muss aber sagen, dass ich von der Schule jede erdenkliche Unterstützung bekam. Wenn ich während des Trainings mal weinen musste, hat mich unsere Co-Trainerin in den Arm genommen und ist mit mir ein wenig spazieren gegangen. Auch die anderen Mädels aus der Mannschaft hatten volles Verständnis und deswegen musste ich mich zumindest nicht verloren fühlen. Mein Fehler war auch, dass ich mehrmals am Tag zu Hause angerufen habe. Ich habe mir eingeredet, dass ich mich dann besser fühlen würde, aber lange Zeit hat es mich davon abgehalten, mich richtig einzuleben. Das Schlimmste war, dass ich nicht wusste, was in der Schule auf mich zukommen würde und deshalb wurde auch alles besser, als die Schule anfing.
Campus
Meine Schule hat definitiv alle Erwartungen übertroffen. Der Campus ist ein Traum und man ist nie wirklich alleine. Alle kümmern sich intensiv um jeden Schüler und wollen wirklich unser Bestes. Natürlich war ich völlig überwältigt nach den ersten Tagen in der Schule und das blieb auch eine Weile so - sei es wegen der vielen Hausaufgaben oder des intensiven Sports. Ich brauchte ewig für meine Hausaufgaben und wurde trotzdem nicht immer fertig. Aber nach einer Weile wurde es einfacher und mittlerweile habe ich sogar Zeit, jeden Tag Klarinette zu üben. Natürlich hatte ich noch immer Heimweh, aber ich konnte auch schon mal Dinge genießen und hatte nicht mehr dieses Dauer-Heimweh wie zu Anfang. Alles wurde besser und ich fand Anschluss und Freunde. Es sind zwar keine tiefen Freundschaften, aber es ist zumindest so, dass man Leute zum Reden, Lachen und Ausweinen hat, wenn man mal traurig ist. Ich habe nach einer Weile gelernt, nicht das Jahr in seiner ganzen Länge zu sehen, sondern in einzelnen Abschnitten. Ich denke, dass das ungeheuer wichtig ist, um die Zeit durchzuhalten. Ich nehme mir jeden Monat etwas Schönes vor, zum Beispiel einen Shopping-Trip, einen Besuch meiner Tante oder ein schönes Wochenende mit meiner Host family. So geht jeder Tag viel schneller herum und ich kann mich auch durch weniger erfreuliche Schultage gut durcharbeiten.
Halloween

Thanksgiving

Jetzt bin ich schon seit drei Monaten in den USA und habe schon unglaublich viel erlebt. Ich war mit meiner Gastfamilie in New Jersey am Meer, bin schon viele Male in Philadelphia und auch schon zweimal in Washington DC gewesen (habe Obama leider nicht zum Tee getroffen). Ich bin bei einem “Gay-Rights-March” mitgelaufen, war trick or treating an Halloween und bin schon viel in Lancaster County unterwegs gewesen, da meine Gastfamilie dort wohnt. (Für alle, die es nicht wissen: In Lancaster County wohnen die Amish und sie fahren nur Pferdekutschen und haben kein elektrisches Licht.)
In der Schule hat sich jetzt alles geordnet, letzte Fragen wurden beantwortet und ich weiß, was jeden Tag auf mich zukommt. Mittlerweile spiele ich nicht mehr Fußball, sondern mache “Total fitness”, was mir auch viel Spaß macht. Am meisten gefällt mir der Englischunterricht, weil wir dort viel selber schreiben, was mir gut liegt. Unser Lehrer ist klasse und unsere Diskussionen sind irre spannend. Als Kunst-Fach habe ich Photographie belegt und das macht mir wahnsinnig viel Spaß. Wo immer ich also bin, mache ich Photos, um sie später selber zu entwickeln und zu drucken.
Ich habe ja bereits erwähnt, dass ich schon Klarinette studiere und auch das kann ich hier gut weitermachen. Ich fahre jede Woche nach Philadelphia und mache an der Settlement Music School Kammermusik. Zudem habe ich jede Woche Klarinettenunterricht bei Ricardo Morales, dem Soloklarinettisten des Philadelphia Symphony Orchestra. Es ist unglaublich, mit jemand so Berühmtem zusammen arbeiten zu dürfen und ich profitiere schon jetzt davon. Er ist sehr nett und witzig und ermöglicht mir viele Konzertbesuche.
Sara und ihre Gastfamilie
Oft besuche ich auch meine Gastfamilie, mit der ich mich sehr gut verstehe. Sie kümmern sich rührend um mich und ich kann immer auf sie zählen. Über Thanksgiving bin ich nicht nach Hause gefahren, da meine Mutter mich hier besucht hat. Wir hatten eine tolle Zeit bei meiner Gastfamilie, in Philadelphia und Washington DC. An Thanksgiving wird hier traditionell immer Turkey gegessen und das habe ich auch mit meiner Mama getan. Wir hatten viele Einladungen für ein Thanksgiving-Dinner von Lehrern, Freunden und meiner Gastfamilie, aber wir waren unterwegs und haben deshalb in einem Restaurant ein Thanksgiving-Menü gegessen. Es war hart, als sie wieder fliegen musste, da ich mich viel zu schnell wieder an sie gewöhnt hatte! Ich war ziemlich traurig darüber, habe viel geweint und wäre am liebsten mit ihr nach Hause geflogen, aber das hätte ich bereut. Ich finde es immer schwer, sich nach freien Tagen wieder in den Schulalltag einzuleben, aber nach ein paar Tagen ist dann das Abschiednehmen vergessen und mein Kopf ist wieder voll mit Schule und Freunden in Westtown. Jetzt habe ich nur gute zwei Wochen Schule, bevor ich schon wieder Weihnachtsferien habe.
Weiße Weihnachten

Christmas

Diese Weihnachten waren für mich die ersten, die ich nicht mit meiner ganzen Familie zuhause in Deutschland verbracht habe. Ich muss ehrlich sagen, dass ich fast kein Weihnachtsgefühl hatte. Ich hatte mir das Ganze ziemlich schlimm ausgemalt und war dann auch um die Feiertage etwas traurig. Da ich mir aber von vornherein gesagt hatte, dass es eben keine “gewöhnlichen” Weihnachten werden würden, war ich nicht allzu sehr enttäuscht. Es war also alles gar nicht so schlimm, wie ich es mir ausgemalt hatte.
Am 24. Dezember war ich bei einer deutschen Familie eingeladen, die ich in Westtown kennengelernt hatte. Ich habe sie ein paar Wochen vor Weihnachten in der Schule getroffen und da haben sie mich prompt eingeladen. So hatte ich dann doch noch ein bisschen deutsches Weihnachten mit Singen und Geschenken am 24. abends. Das war sehr schön und ich habe mich ein bisschen mehr wie zuhause gefühlt. Den 25. Dezember habe ich dann mit meiner Gastfamilie verbracht. Sie haben mich genauso reich beschenkt wie ihre eigenen Kinder. Es waren noch andere Familienmitglieder über die Feiertage eingeladen und so hatten wir ein fröhliches volles Haus. Wir haben Plätzchen gebacken, gut gegessen und viel Spaß gehabt. Meine restlichen Ferien habe ich dann mehr oder weniger damit verbracht, auszuschlafen, ins Kino zu gehen und Zeit mit meiner Gastfamilie zu verbringen. Natürlich habe ich meinen Kopf auch ab und zu in Schulbücher gesteckt, aber im Großen und Ganzen wollte ich mich ein bisschen erholen.
Was diese Weihnachten besonders schön gemacht hat, war der Schnee; passend am letzten Schultag fing es an zu schneien und hörte gar nicht mehr auf. Wir hatten sagenhafte Schneelandschaften die ganzen Ferien über und waren nachts rodeln und haben Spaziergänge gemacht. Besonders schön war es, die Amish-Kutschen abends im Sonnenuntergang im Schnee zu sehen.
Silvester wurde bei mir überhaupt nicht gefeiert. Das war etwas komisch für mich, da ich schon um zehn Uhr abends im Bett lag. Aber ich habe mir einfach wieder gedacht: andere Länder, andere Sitten, nächstes Jahr gibt es wieder Silvester mit Raketen um 24 Uhr, Bleigießen und Sekt. Ich glaube, wenn man seine Erwartungen im Voraus etwas senkt und sich dafür interessiert und offen für Neues ist, dann freut man sich mehr über die Dinge, die geschehen, als dass man traurig ist über die, die man vermisst.
Am Ende der Ferien wollte mich meine Gastfamilie gar nicht mehr gehen lassen, aber wir sind dann doch alle wieder nach Westtown zurückgekehrt. Der Anfang in der Schule war ziemlich schwer und mit viel Heimweh verbunden, denn bei meiner Gastfamilie habe ich mich meistens sehr zuhause gefühlt. Westtown erschien mir zu dem Zeitpunkt wie ein Ort, an dem ich alleine und ohne Familie bin. Deshalb wollte ich nach den 2 Wochen Weihnachtsferien nicht wieder zurück zur Schule. Ich habe versucht, mich auf die nächsten Ferien zu freuen und mich darauf zu konzentrieren, einfach einen kleinen Schritt vor den anderen zu setzen. Wenn ich so darüber nachdenke, dann ist es wirklich das, was mir am meisten geholfen hat. Ich konnte es nicht aushalten, daran zu denken, dass noch 6 Monate vor mir lagen, aber wenn man nur bis zum Ende eines Monats denkt, dann geht auf einmal alles ganz schell. Kleine Ziele sind nämlich viel schneller zu erreichen. So bin ich dann in das Jahr 2010 gestartet.
 

Spring Break

Während viele von den internationalen Studenten im Spring Break in ihre jeweiligen Heimatländer zurückgekehrt sind, hatte ich mich dazu entschlossen, gen Süden zu fliegen und noch mehr von Amerika zu sehen. Es war ein Austauschprogramm von meiner Schule, in dessen Rahmen ich nach Martinique geflogen bin! Martinique gehört zu den West Indies und liegt somit mitten in der Karibik. Das heißt: Türkises Meerwasser, Palmen und tanzen bis in die Morgenstunden!
Da die Insel sehr klein ist, kann man problemlos von einem Ende zum anderen gelangen. Deshalb waren wir etwas verstreut untergebracht. Wir haben alle in Gastfamilien auf der ganzen Insel verteilt gewohnt. Der Plan war, den Aufenthalt in Schulbesuche und Erlebnistouren aufzuteilen. So waren wir etwa 3 Tage pro Woche in der Schule und haben aktiv am Unterricht teilgenommen und uns dort meistens gegenseitig interviewt. Das Gute für mich war, dass es nicht wirklich relevant war, ob die Interviews auf Englisch oder Französisch waren, da ich beide Sprachen dieses Jahr üben wollte.
Meist haben wir nur den Vormittag in der Schule verbracht, denn die Liste mit Sehenswürdigkeiten war sehr lang. Danach waren wir täglich auf Achse und haben die Insel von Norden bis Süden erkundet. Wir besichtigten Museen, sind auf den Vulkan der Insel gestiegen, haben an etlichen Stränden gebadet, uns in Flüssen mitten im Regenwald erfrischt und vieles, vieles mehr. Abends gab es oft Partys bei den Familien und uns wurde beigebracht, wie man richtig südländisch tanzt. Wir als “Amerikaner” waren anfangs ziemlich steif und haben uns damit etwas schwer getan, aber am Ende ist der Funke übergesprungen und auch wir fingen an, die Musik zu spüren. So haben wir nachts, umgeben von Zuckerplantagen und Bananen lange draußen getanzt und den Suk, die aus Martinique stammende Musik, genossen. Es waren wunderbare Momente, da durch die Natur und die lebensfrohen Menschen eine unglaubliche Atmosphäre entstand. Es war aber auch sehr interessant, da wir das Inselleben nicht als Tourist, sondern aus Sicht der Eingeborenen erleben konnten. Für so viele ist es ein Traum, auf einer Insel zu leben und man leistet es sich höchstens einmal im Urlaub, aber es ist etwas vollständig anderes, wenn man sein Leben dort verbringt. Wir waren zwei Wochen dort und diese Zeit ging viel zu schnell vorüber. Noch immer sehe ich mich mitten im Urwald in einem eiskalten Bach baden und noch immer kann ich das Rauschen vom Meer hören.
Auch wenn diese Ferien so traumhaft und anders als Westtown waren, war es nach diesen Ferien nicht allzu hart, in den Schulalltag zurückzukehren. Es war für mich der letzte Anlauf; das letzte Mal ein Anfang nach Ferien, da in ein paar Monaten mein Jahr schon vorbei sein würde. Zudem wurde auch die Schule einfacher für mich und ich brauchte nun für das History Chapter nicht mehr eine Stunde, sondern nur noch 20 Minuten. Ich hatte endlich meine Routine und trotz der noch hier und da auftauchenden Traurigkeit fühlte ich mich endlich richtig am Leben und auch ein klein wenig zuhause.
Campus

Der Abschied

9 Monate, der tägliche Wunsch einfach nur wieder nach Hause zu fliegen und viel viel Arbeit: Vorbei! Es ist jetzt Donnerstag, der 10. Juni und in zwei Tagen sitze ich im Flieger, der mich zurück in mein altes Leben bringen wird.
Bis gestern hatte ich exams und die Ringe unter den Augen sind noch immer deutlich zu sehen. 5 exams in zweieinhalb Tagen; da war ziemlich viel Energie gefragt. Und trotz all meiner Zweifel habe ich alles gemeistert. Natürlich weiß ich die Ergebnisse noch nicht, aber ich bin mit mir zufrieden. Ich war so gut vorbereitet, dass nichts in den Tests eine Überraschung war, und selbst Mathe, das damals mir so verhasste Fach, lief gut. Nach dem letzten exam haben wir nur noch jubelnd die Schulräume verlassen. Doch leise dachte ich mir auch: nie wieder Westtown, nie wieder von Klasse zu Klasse hetzen und hoffen, dass man nicht zu spät kommt, nie wieder collection in diesem Raum und nie wieder stolze Kommentare der Lehrer. Ich fühlte mich leer. Sehr, sehr verloren. 9 Monate hatte ich auf diesen Moment gewartet und die Tage gezählt. Es klingt vielleicht alles ein bisschen zu kitschig, aber das ist es nicht.
Ich liege jetzt auf meinem Bett, die gepackten Koffer stehen an der Tür und die leeren Wände schreien nach all den Fotos, die 9 Monate hier zuhause waren. Ich fühle mich falsch, weil kein Biobuch neben mir liegt und mein Taschenrechner irgendwo unter T-Shirts im Koffer liegt. Zum ersten Mal habe ich wieder völlige Freiheit und keinen festen Plan, an den ich mich halten muss. Doch verrückterweise wünsche ich mir jetzt nichts lieber zurück, als eine geregelte Schulwoche hier in Westtown. Ich habe wahrscheinlich viel zu spät damit angefangen, das Jahr hier zu genießen und dankbar für die Möglichkeiten zu sein, die mir in Westtown geboten wurden. Ich habe aber auch kein schlechtes Gewissen wegen meiner Gefühle und anfänglicher Unsicherheit, denn all das zusammen war die Erfahrung, die ich als Auslandsjahr betrachte. Es ging mir nicht nur um die Schulnoten, sondern auch um die Wahrheit, die man über sich selber herausfindet.
Für mich ging es auch viel um meine Musik. Wie ich schon eher erwähnt habe, hatte ich bei Ricardo Morales, dem Soloklarinettisten des Philadelphia Symphony Orchestra Unterricht. Er hat mir nicht nur gezeigt, wie ich Klarinette spiele, sondern auch viele lebensphilosophische Dinge. Allein der Aufwand, zum Unterricht zu kommen, hat mich so viel gelehrt. Vielleicht seht ihr jetzt, was ich sagen möchte; alles zusammen, das Heimweh und die Trauer, die Erfolge und Fehler, die Freude und die Freundschaften, all das ist es, woraus man nach einem Jahr gelernt hat.   
Ich glaube, es braucht ein Jahr, um all dies zu erleben und irgendwo anzukommen. Dann fängt man damit an, sich von dem zu befreien, was man mit sich herumträgt. Ich bin befreit von der Abhängigkeit dessen, was ich 16 Jahre als meine Heimat betrachtet habe. Ich bin offen für Neues und stehe mit einem Fuß in einem völlig neuen Leben. Doch jetzt verlasse ich es wieder und es tut mir fast so weh wie der Abschied vor 9 Monaten, als ich hier hin kam. Aber vielleicht muss ich es so sehen, dass ich das, von dem ich mich vor 9 Monaten verabschiedet habe, jetzt wieder finden werde und wer weiß, vielleicht werde ich in der Zukunft hier studieren und diesen Ort wieder finden, wie am Samstag mein Zuhause in Deutschland. Denn wie Westtown sagt: Selbst Austauschschüler für ein Jahr werden immer zur Westtown community gehören und als Alumni nie vergessen werden!
Ich glaube nun, dass ich im Nachhinein den ersten Satz etwas ändern muss: 9 Monate, viele, viele Erfahrungen und viele Erfolge: All das werde ich nie vergessen! Es ist jetzt Donnerstag, der 10. Juni und in zwei Tagen sitze ich im Flieger, der mich zurück in mein neues, von diesem Jahr geprägtes Leben bringen wird.